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In unserer Welt, in der alles einem Anfang und einem Ende unterliegt, gibt es eine Konstante, die über alle Zeit hinaus Bestand hat: Gott. Während Eichen aus Eicheln wachsen und Kröten aus Kaulquappen entstehen, hat Gott keinen Anfang und wird niemals enden. Diese feste Überzeugung ist wie ein Anker in stürmischen Zeiten, eine Gewissheit, die uns in unserer Suche nach Sinn und Beständigkeit leitet.

Stell dir vor, du betrachtest alte Fotos von dir und erkennst, wie sehr du seitdem gewachsen und dich verändert hast. Doch selbst in diesen Momenten des persönlichen Wandels bleibt eine Tatsache unerschütterlich: Gott ist unveränderlich. Er ist gestern, heute und morgen derselbe. Während Tage enden und Rennen auf Ziellinien entschieden werden, ist Gott zeitlos und ewig.

Wir setzen den Namen einer Person oft in Großbuchstaben, um ihre Bedeutung zu unterstreichen. In ähnlicher Weise werden in einigen Bibeln Großbuchstaben verwendet, um den einen, wahren Gott hervorzuheben. Sein Name lautet: HERR. Die Namen, die in der Bibel auftauchen, sind keine zufälligen Buchstabenfolgen, sondern Enthüllungen über die Charaktereigenschaften und Taten der betreffenden Personen.

Abraham bedeutet beispielsweise „Vater von vielen“, und er wurde zum Vater eines ganzen Volkes. Doch Gott selbst hat viele Namen, die seine unendliche Größe und Vielfalt widerspiegeln. Er ist der Allmächtige, das Brot des Lebens, der Berater, der Erlöser, der Ewige Vater, die Quelle, der Gute Hirte, der Heilige, Immanuel, Jesus, der König der Könige, das Licht der Welt, der Mächtige Gott, der Friedensfürst, der Fels, der Erretter, die Wahrheit, der Weinstock, der Wunderbare Ratgeber und das Lamm.

In der Bibel wird Gott auch als „Alpha und Omega“ bezeichnet, was bedeutet, dass er der Anfang und das Ende aller Dinge ist. Jeder dieser Namen offenbart uns einen Aspekt seiner Natur und seiner Beziehung zu uns. Sie erzählen uns von seiner Liebe, seiner Macht, seiner Treue und seiner unendlichen Gnade.

Wenn wir also über Gott nachdenken, sollten wir uns daran erinnern, dass er weit über unsere Vorstellungskraft hinausgeht. Seine Existenz ist nicht durch Zeit oder Raum begrenzt. Er ist der unerschütterliche Fels inmitten der Veränderung, die Konstante in einer sich ständig verändernden Welt. Lasst uns in dieser Gewissheit Ruhe finden und unsere Herzen und Gedanken auf den einen, wahren Gott richten, der uns in seiner unendlichen Liebe und Fürsorge umgibt.

3 DU WIRST …

Wir haben gesehen, dass die Zehn Gebote, nach Aussagen der Bibel,  nicht der Weg zur Erlösung sind, sondern ein Maßstab für meine Sünde und für die Gerechtigkeit, die Gott von mir fordert und die mir in Christus geschenkt wurde. Ohne diesen Maßstab bin ich mir keiner Schuld bewusst und kann deshalb mit Jesu Christi stellvertretendem Opfer nichts anfangen.

Als Jesus auf diese Erde kam und für uns starb und auferstand, hat er das Gesetz in drei Hinsichten erfüllt. Er hat es als erstes erfüllt, dadurch, dass er ihm gehorchte. Er gehorchte den Geboten ausnahmslos in allen sittlichen Forderungen.

Er erfüllte das Gesetz in zweiter Hinsicht, indem er die Prophezeiungen erfüllte. Seine Geburt, sein Leben und sein Dienst wurden bis ins Detail vorausgesagt. Durch seinen Tod brachte er das Gesetz zur Vollendung und machte die Macht des Gesetzes, nämlich zu Verurteilen, zunichte. Paulus macht es an einem guten Beispiel deutlich. Er vergleicht es mit einer Ehe und sagt, solange der Mann lebt, ist seine Frau an ihn gebunden. Wenn aber der Mann stirbt, dann ist sie frei auch einen anderen Mann zu heiraten. Genauso sind wir durch den Tod Jesu, dem Gesetz gestorben, damit wir durch die Auferstehung Jesu, jetzt Jesus Christus unserem wahren und besseren Bräutigam gehören.  Mit seinem Tod, bezahlte er die Strafe, die das Gesetz forderte.

Als drittes erfüllte Jesus die Gebote, indem er sie bestätigte und erklärte. Er war die vollkommene Darstellung der Zehn Gebote. Ja, Jesus der Messias kam, um das Gesetz zu erfüllen.[1]

Für den Ungläubigen, der noch nicht Jesus als Retter angenommen hat, für ihn haben die Zehn Gebote eine richtende Funktion. Sie sollen ihn seiner Sünde überführen und verurteilen, so schreibt es Paulus in Römer 7,8ff. Aber sie sollen ihn auch zu Jesus treiben, denn er war die Erfüllung des Gesetzes.

Augustinus schreibt: „Das Gesetz ist gegeben worden, dass die Gnade gesucht werde; die Gnade ist gegeben, damit das Gesetz erfüllt werde.“[2]

Was bedeutet das jetzt für den neutestamentlichen Gläubigen? Muss er jetzt die Zehn Gebote halten oder reicht es wenn ich mich an das Gebot der Nächstenliebe halte?

Wie oben schon erwähnt, vergleicht Paulus das mit einer Ehe. Der Gläubige ist der richtenden Funktion des Gesetzes gestorben. Die Zehn Gebote bleiben bestehen, aber sie haben für ihn nicht mehr diese todbringende Funktion, da er schon gestorben ist. Luther bringt es auf den Punkt und sagt: „Christus hat uns nicht vom Gehorsam des Gesetzes befreit, sondern vom Fluch.“[3]

Doch gleichzeitig mit dem Sterben der Alten, tritt eine neue Verpflichtung ein, nämlich eine neue auf die Zukunft bezogene: „damit wir Gott Frucht bringen“ (Röm 7,4). Somit geht die Verheißung aus dem Alten Testament (Jer 31,33) in Erfüllung, wo gesagt wird:

Sondern das ist der Bund, den ich mit dem Haus Israel nach jenen Tagen schließen werde, spricht der HERR: Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres legen und werde es auf ihr Herz schreiben. Und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein.

Elberfelder-Bibel; Jeremia 31,33

Paulus greift dieses Bild auch nochmal auf und sagt, dass die Christen ein Brief Christi sind, der nicht auf steinerne Tafeln geschrieben wurde, wie die Gebote, sondern auf fleischerne Tafeln des Herzens (vgl. 2. Kor 3,3).

Nicht das Gesetz wird geändert, sondern wir werden so geändert, dass wir die Gebote Gottes nicht mehr unter dem Druck der Verurteilung durch das Gesetz halten …, sondern durch die Kraft des Geistes gerne ausleben. Das Gesetz selbst ist und bleibt „geistlich“ (Röm 7,14) aber ist gerade deswegen nur durch den Geist zu erfüllen.[4]Schirrmacher, 

Ethik Bd. 2, S. 123

Der lebendigmachende Geist, kommt durch die Auferstehungskraft Christi, also durch die Wiedergeburt, in uns und schreibt das Gesetz Gottes, die Zehn Gebote, auf die fleischernen Tafeln unseres Herzens und in unseren Sinn. Nur dadurch können wir die Gebote geistlich fassen, weil sie geistlich sind. Er gießt die Liebe in unsere Herzen aus, die des Gesetzes Erfüllung ist.[5]

Schon im Alten Testament lesen wir, dass der Geist Gottes Leben gibt (vgl. 1. Mo 2,7). Paulus schreibt nun in Römer 8,1-4:

Also gibt es jetzt keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. 2 Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes. 3 Denn das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem er seinen eigenen Sohn in Gestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde sandte und die Sünde im Fleisch verurteilte, 4 damit die Rechtsforderung des Gesetzes erfüllt wird in uns, die wir nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandeln.

Elberfelder-Bibel; Römer 8,1-4

Paulus sagt noch einmal, dass es für die Gebote unmöglich war, uns die Kraft zu geben, sie zu halten, aber der heilige Geist, der durch die Wiedergeburt in uns kommt, gibt Kraft sie zu halten. Er sorgt dafür, dass wir Gott gerne dienen. Wenn wir in Christus sind, dann werden wir beginnen so zu leben, wie Gott von uns möchte, dass wir leben. Nicht wir erfüllen die Rechtsforderung des Gesetzes, sondern Paulus spricht im Passiv: damit die Rechtsforderung in uns erfüllt wird.

Selbst als Christen können wir nicht die Gebote nicht halten. Doch durch den heiligen Geist, erfüllt Gott nun sein eigenes Gesetz in uns. Hesekiel schreibt in Hesekiel 36,26-27:

Und ich werde euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euer Inneres geben; und ich werde das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. 27 Und ich werde meinen Geist in euer Inneres geben; und ich werde machen, dass ihr in meinen Ordnungen lebt und meine Rechtsbestimmungen bewahrt und tut.

Elberfelder-Bibel; Hesekiel 36,26-27

Wir werden die Gebote Gottes halten, aber nicht aus eigener Anstrengung und eigener Kraft, sondern durch den heiligen Geist. Als Christen gelten uns die Zehn Gebote immer noch, doch nicht, weil wir durch ihr halten gerettet werden, sondern weil wir durch die Rettung sie halten werden.

Somit wird durch den heiligen Geist das „Du sollst…“ zu einem „Du wirst…“


[1] McQuilkin, Biblische Ethik. S. 61ff
[2] Dächsel, Die ganze heilige Schrift, S. 28
[3] Schirrmacher, Ethik Bd. 2, S. 123
[4] A.a.O. S. 99

2 Du hast …

2.1 Das Verhältnis Jesu zum Dekalog

Das Bewusstsein, dass der Dekalog als Wegweiser zum Leben gegeben wurde, scheint in den etwa 400 Jahren zwischen dem letzten Propheten und der Geburt Jesu verloren gegangen zu sein, oder zumindest in den Hintergrund getreten zu sein. Das Gesetz war nicht mehr Freude, sondern eine Last (Mt 11,29; 23,4ff). Die Pharisäer hatten immer wieder neue Gebote und Verbote aufgestellt, damit ja niemand die Zehn Gebote bricht, denn das bringt den Tod, und damit haben sie dem Dekalog die eigentliche Aufgabe genommen, die das Gesetz hatte, nämlich die Erkenntnis zu geben, dass ich verloren bin. Das Gesetz sollte den Menschen verurteilen und dahin führen, dass er einen Ausweg sucht.[1]

Als Jesus kam sagte er: „Meint nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ (Mt 5,17) Wie hat Jesus das Gesetz erfüllt? Wie stand er zu den Geboten?

Oft wird behauptet das Jesus die Zehn Gebote aufhebt. Jedoch hebt er die Gebote nicht auf, sondern im Gegenteil, er verschärft sie in der Bergpredigt indem er ihnen das Element der Intention hinzufügt.[2] Jesus verschärft die Gebote und sagt, wenn jemand seinem Bruder zürnt, dann hat er schon das Gesetz gebrochen und wenn jemand auch nur eine Frau ansieht und sie begehrt, der hat schon die Ehe gebrochen. Sünde beginnt nicht allein mit der Tat, sondern mit Gedanken und Gefühlen, die nicht Gottes Willen und Wesen entsprechen. So reicht die äußere Gerechtigkeit, die die Pharisäer vorlebten, nicht aus, um das ewige Leben zu erhalten.

Jesus lehnte die Interpretation der Gebote, wie sie die Pharisäer gaben, ab, da sie dadurch im Effekt für nichtig erklärt werden (Mt 15,4-6). Jesus selbst wiederholt die meisten der zehn Gebote und gibt ihnen ihre eigentliche Bedeutung. In Matthäus 15 spricht er über das dritte, sechste, siebte, achte und neunte Gebot und vier Kapitel weiter fügt er der Liste noch das fünfte Gebot hinzu. Auch an anderen Stellen spricht er über einzelne Gebote und radikalisiert sie.

Wir sehen, Jesus hat die Gebote nicht aufgehoben, sondern verschärft. Er erfüllte die Zehn Gebote dadurch, dass er ihnen gehorchte (2. Kor 5,21). Er war an keinem der Zehn Gebote schuldig geworden. Er war so, wie Gott sich den Menschen vorgestellt hatte. Er sagt selbst von sich: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Joh 14,9). Vielleicht stellen sie sich die Frage: Ist Jesus dadurch nicht überflüssig geworden, wenn er selbst so sehr auf die Zehn Gebote besteht? 

2.2 Das Verhältnis des Apostel Paulus zum Dekalog

Schauen wir uns zunächst noch an, was der Apostel Paulus zu den Zehn Geboten schreibt. In seinem Brief an die Philipper schreibt er (Phil 3,6-11):

der Gerechtigkeit nach, die im Gesetz ist, untadelig geworden. 7 Aber was auch immer mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Verlust gehalten; 8 ja wirklich, ich halte auch alles für Verlust um der unübertrefflichen Größe der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, willen, um dessentwillen ich alles eingebüßt habe und es für Dreck halte, damit ich Christus gewinne 9 und in ihm gefunden werde – indem ich nicht meine Gerechtigkeit habe, die aus dem Gesetz ist, sondern die durch den Glauben an Christus, die Gerechtigkeit aus Gott aufgrund des Glaubens -, 10 um ihn und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden zu erkennen, indem ich seinem Tod gleich werde, 11 ob ich irgendwie hingelangen möge zur Auferstehung aus den Toten.Elberfelder-Bibel; Philipper 3,6-11

Er war dem Gesetz nach untadelig. Man konnte ihn nach dem Gesetz nicht anklagen, da er alles gehalten hatte und doch hat ihm dieses nicht das ewige Leben gebracht. Sein ganzes Bemühen im Halten des Gesetzes Leben zu finden, hat er für Dreck erachtet. Es war nutzlos und sinnlos. Erst als er Christus gefunden hat und durch seinen Tod, hatte er die Hoffnung zur Auferstehung aus den Toten zu gelangen.

Paulus spricht von der Aufrichtung des Gesetzes, nicht von seiner Aufhebung. Auch ihm geht es um die wahre Bedeutung der Gebote: Die zehn Gebote sind nicht der Weg zum ewigen Leben, sondern der Maßstab für die Sünde (Röm 3,20). Er sagt, würden die Gebote abgeschafft, würde demnach unsere Sündenerkenntnis verloren gehen (Röm 4,15) und damit auch das Verständnis für den Kreuzestod Jesu. Paulus zeigt außerdem in Römer 4,1-8, dass selbst der alttestamentliche Gläubige nicht durch Halten der Gebote gerecht wurde, sondern durch den Glauben. Auch jener musste glauben, dass Gott ihm vergibt, weil jemand stellvertretend für ihn stirbt (die Tieropfer waren ein Hinweis auf Jesus Christus).[3]

Weiter schreibt Paulus, im Kapitel 13,8-10:

8 Seid niemand irgendetwas schuldig, als nur einander zu lieben! Denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt. 9 Denn das: „Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren“, und wenn es ein anderes Gebot gibt, ist in diesem Wort zusammengefasst: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Die Erfüllung des Gesetzes ist also die Liebe.Elberfelder-Bibel; Römer: 13,8-10

Er zitiert hier das sechste, siebte, achte und zehnte Gebot wörtlich und fasst die übrigen zusammen und sagt, alle zehn Gebote können in dem einen Satz zusammengefasst werden: liebe deinen nächsten wie dich selbst. Nicht zusammengefasst, indem sie auf einen Satz reduziert werden, sondern die zehn Gebote sind die Ausführung des Zentralgebotes der Liebe.[4]In vielen Schriftstellen lehrte Paulus also eindeutig Gehorsam gegenüber dem Gesetz Gottes aber nicht um dadurch Leben zu erhalten.


[1] McQuilkin, Biblische Ethik. S. 53
[2] Bockmühl, Christliche Lebensführung. S. 10
[3] Wittwer, Die Zehn Gebote. S. 3
[4] Bockmühl, Christliche Lebensführung. S. 11

„Mittlerweile kennt in Europa nur eine Minderheit der erwachsenen Bevölkerung den Wortlaut der Zehn Gebote. Allenfalls die auf den Mitmenschen bezogenen Gebote des Dekalogs (haben) einen Ruf als ethisches Minimum – auch unter sogenannten Nicht-Gläubigen – bewahrt.“Schreiber, Die Zehn Gebote. Eine Ethik für heute, S. 11.

schreibt der SPIEGEL-Autor Mathias Schreiber.1 Auch die Meinungsumfrage Emnid kommt im Jahr 1999 zu dem Ergebnis, dass nahezu alle Frauen und Männer in Deutschland, nur noch vier der zehn Gebote für wichtig halten. Vor allem für die junge Generation ist auch nicht klar, wofür die zehn Gebote gut sein sollen.2 Dabei sind die zehn Gebote bis heute auch in der Rechtsprechung immer noch geltende Maßstäbe.

Gerade in der heutigen, extrem individualistisch geprägten Zeit in der die Maßstäbe und Werte außer Kraft gesetzt werden, sieht man eine Trendwende in Deutschland, nämlich die Sehnsucht nach verbindlichen Maßstäben. Viele Menschen sind auf der Suche nach Werten, die der Gesellschaft Halt geben.

Könnte die Rückbesinnung auf die zehn Gebote diese Sehnsucht stillen oder gelten die 10 Gebote uns als Christen nicht mehr?

1 Du Sollst …

1.1 Gottes Gabe an Israel

Viele Menschen denken, wenn sie das Wort „Gebote“ oder Gesetz hören, sofort an Verbote und Befehle, die zu befolgen sind. Sobald man diese Verbote und Befehle nicht einhält, wartet eine harte Bestrafung auf den Übeltäter.

Doch genau hier liegt das Problem. Wenn wir uns mit den 10 Geboten beschäftigen, dann ist es zwingend notwendig sich mit dem historischen Umfeld und der Situation zu beschäftigen. In den vergangenen Jahrhunderten hat die Christenheit einen großen Fehler gemacht. Sie hat die 10 Gebote aus ihrem Zusammenhang gerissen.  Die zehn Gebote, wie sie in 2 Mose 20 stehen haben nicht den Anspruch, das Grundgesetz für die gesamte Menschheit zu sein, denn im ersten Satz, der sogenannten Präambel der Zehn Gebote[1], sagt der allmächtige Gott: „Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus, herausgeführt habe.“ Das war die Grundvorrausetzung der Zehn Gebote. Die Zehn Gebote beginnen mit einer großartigen Verheißung: „Ich bin der HERR, dein Gott,…“ und darauf folgt dann eine Erinnerung: „der ich dich aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus, herausgeführt habe.“ 

Wer ist er, der sich hier vorstellt? Gott stellt sich hier mit dem Gottesnamen YHWH (Jahwe) vor, was soviel wie „Ich bin mit dir“ oder „Ich bin gegenwärtig“[2] bedeutet. Es ist nicht irgendein Mensch, der hier spricht. Es ist Gott höchstpersönlich. Er hat die Autorität. Für den Juden hat Gott die höchste Autorität. „Das ist der Gott, der uns aus Ägypten geführt, und deshalb gehorchen wir. Er ist es, der uns befreit hat.“ Er sagt aber noch mehr. Gott sagt: „Ich bin dein Gott“. Das ist das Liebesangebot Gottes. Die Initiative geht immer von Gott aus.

Gott hat als erstes etwas getan. Er war es, der die Israeliten aus der Gefangenschaft befreit hat. Bei Gott kommt zuerst die Gabe und danach erst die Aufgabe. Das ist grundlegend für unser Verständnis der Zehn Gebote und für unser gesamtes Bibelverständnis.[3] Gott beginnt mit dem Schenken. Er gab die Freiheit, die Zusage seiner Nähe und seines Schutzes. 

Wer erkennt, dass Gott die Israeliten für sich befreit hat, wird die Zehn Gebote nicht mehr missverstehen und als Belastung oder Einschränkung empfinden. Der Gehorsam den Zehn Geboten Gottes gegenüber ist eine uneingeschränkte und freiwillige Antwort der Dankbarkeit für Gottes große Freundlichkeit.[4] Die Zehn Gebote, so sagt Bonhoeffer: „erlauben dem Menschen, als Mensch vor Gott zu leben.“[5]

1.2 Gottes Aufgabe für Israel

1.2.1 Struktur des Dekalogs

Die Zehn Gebote, wie wir sie in 2 Mose 20 überliefert haben, bestehen aus zwei Teilen. Die ersten vier Gebote betreffen die Beziehung der Israeliten zu Gott, die anderen sechs behandeln die gesellschaftlichen Beziehungen innerhalb der Bundesgemeinschaft. Sie umfassen Zehn Grundsätze des menschlichen Lebens. 1. Religion, 2. Gottesdienst, 3. Verehrung, 4. Zeit, 5. Autorität, 6. Leben, 7. Reinheit, 8. Besitz, 9. Reden und 10. Zufriedenheit.[6]

Der Dekalog stellt unbedingt zu Gehorsam verpflichtende Forderungen, eine sogenannte „apodiktische“ Formulierung, die sich in solcher Form in keiner zeitgenössischen Gesetzgebung findet und im Rahmen eines Bundesschlusse gegeben wird. Vergleicht man allerdings den Aufbau der Gebote und ihren Kontext, so erkennt man auffallende Ähnlichkeiten zu den Verträgen der hetitischen Großkönige. Dieser Vergleich und die Form macht deutlich: Gott ist der überlegene Bundespartner, der seinen heiligen Willen zum Ausdruck bringt.[7]

1.2.2 Ziel des Dekalogs

Als Gott dem Volk Israel die 10 Gebote übergab, war es eines der größten Ereignisse der Menschheitsgeschichte. Der allmächtige und große Gott selbst schreibt auf zwei Steintafeln, seine Anweisungen an das Volk Israel (2. Mose  31,18). Weshalb? Zur Rechtfertigung? Zur Erlösung? Nein, es war nie Gottes Absicht dem Volk Israel, die zehn Gebote als Weg zur Erlösung zu geben (Röm 3,20a; Gal 3,11). Der Dekalog war „nicht der Wegweiser zu einem Ziel, an dessen Ende erst (als Lohn) das Leben steht, sondern sie ist Orientierung auf einem Weg, auf dem Israel jetzt schon lebt, vor Gott und unter seinem Segen“.[8] Rechtfertigung vor Gott, geschah und geschieht immer nur durch den Glauben an ihn (1Mose 15,6; Röm 4,3.22; 5,1; Gal 2,16; 3,6.21). Die Absicht oder das Ziel des Gesetzes beschreibt Paulus in seinem Brief an die Römer.

„Wir wissen aber, dass alles, was das Gesetz sagt, es denen sagt, die unter dem Gesetz sind, damit jeder Mund verstopft werde und die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen sei. 20 Darum: Aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden; denn durchs Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“Elberfelder-Bibel; Römer 3,19-20

Das Gesetz hatte also die Aufgabe, den Menschen, denen es gegeben wurde, zu zeigen, wie sündhaftig sie sind und dass sie unter das Gericht Gottes verfallen sind. Die zehn Gebote verurteilen somit den Menschen. Jeder der sie liest, muss erkennen, dass er ihnen nicht gerecht werden kann.

1.2.3 Der Dekalog in der Geschichte

In den ersten beiden Jahrhunderten vermischten viele Schriftsteller einzelne Gebote mit anderem ethischen Material. Bischof Irenäus von Lyon argumentierte gegen die Marcioniten, dass Christus die Gebote nicht beseitigte, sondern dass er uns die Kraft gab, sie zu halten. Er war auch der erste, der sie mit den Naturgesetzen identifizierte und selbst den Heiden, die keine spezifische Offenbarung des Willens Gottes hatten, in ihr Gewissen gelegt worden ist.[9]

In der Zeit der Kirchenväter verlor der Dekalog an Bedeutung. Im Gegensatz dazu, wurde die Ethik der evangelischen Räte überbewertet und als etwas, das über den Wert der zehn Gebote hinausging, betrachtet. Augustinus betrachtete die Zehn Gebote als ein vorchristliches Gesetz, das von Christus, durch das Doppelgebot der Liebe, vereinfacht wurde. Er betonte, dass der Christ von innen gelenkt wird, weil Gott seine Liebe in die Herzen ausgegossen hat (nach Röm 5,5) und nicht von einem Gesetz das auf zwei Tafeln geschrieben ist. Doch wirklich prägend für die Zeit der Kirchenväter (400 -1200 n. Chr.) in der christlichen Ethik, war Ambrosius, der Lehrer Augustins. Er schrieb das erste Lehrbuch christlicher Ethik und ersetzte die Zehn Gebote durch eine ethische Konstruktion der vier griechischen Tugenden Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit und Besonnenheit und ergänzte sie mit den christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe. Dabei unterschieden sie zwischen zwei Stufen, der „Pflicht“, zu der die zehn Gebote gehören und die der breiten Masse des Volkes gegeben wurde, und der „Vollkommenheit“, die das Vorrecht der Wenigen, nämlich der Mönche und Nonnen sei. Weiter kam hinzu, dass die verschiedene Listen von Werken oder Gaben des Geistes im Neuen Testament, aus dem Kontext gerissen und zu ethischen Anweisungen erhoben wurden. Statt die Zehn Gebote zu untermauern, ersetzten diese Anweisungen die Zehn Gebote und stellten ihn in den Schatten. [10]

Die zehn Gebote gewannen zu Beginn des 13. Jahrhunderts wieder an Bedeutung, da sie als Beichtspiegel, durch ihre negative Moral, in der Beichte nötig waren. Ein Buch Edmunds von Canterbury führte dazu, dass jedem Gebot eine Anzahl von Sünden nach kasuistischem Maß zugeteilt wurde. Thomas von Aquin (1224 – 1274) besprach die meisten der zehn Gebote einzeln in seiner Summa Theologica und machte dadurch deutlich, dass die Zehn Gebote wieder zentrale Bedeutung in der Kirche haben.[11]

Die Reformatoren, allen voran Luther, schafften die Zwei-Stufen-Ethik ab und konzentrierten die gesamte christliche Ethik auf die Zehn Gebote. Luther zeigte durch fünfzehn verschiedene Auslegungen der Zehn Gebote, dass die Gebote alles enthalten, was von jedem Christen erwartet wird. Wir brauchen nicht nach einer höheren Form der Frömmigkeit oder Verdienst zu suchen, wenn wir Gott wirklich von ganzem Herzen, mit unserem ganzen Verstand, mit ganzer Seele und aus aller Kraft lieben, denn dann sind wir voll beschäftigt, sagt er. Calvin folgt ihm, indem er besonderen Wert auf zwei Funktionen des Dekalogs legte: seine anklagende und seine Weisung gebende Funktion. Auch er sieht die Zehn Gebote als die „perfekte Regel der Gerechtigkeit“. Die Reformatoren lehrten, dass durch den Fall des Menschen, das Verständnis des Naturgesetzes verwirrt und verwischt war und deshalb der Mensch eine neue Offenbarung des Gesetzes benötigte, nämlich die Zehn Gebote. Es ist die Aufgabe des Christen, dieses Gesetz zu erfüllen. Christus brachte nicht ein neues Gesetz, sondern Er brachte die Kraft, die Gebote zu halten. Mit der Zeit setzte man die christliche Ethik mit den Zehn Geboten gleich.[12]

Mit dem Beginn der liberalen Theologie, allen voran Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834), begann die Ethik von den Zehn Geboten abzuweichen. Er erklärte den Dekalog für unangemessen als katechetisches Material, da es den Eindruck erwecke, das christliche Leben bestünde nur darin die Gebote zu halten. Emil Brunners, nach der Erneuerung der Theologie erschienene Lehrbuch der Ethik, Das Gesetz und die Ordnungen, enthält nicht einen einzigen Abschnitt über die Zehn Gebote, als wenn sie nicht existieren würden.

Diese Haltung gegenüber den Zehn Geboten hat dazu geführt, dass der Dekalog als christliche Ethik abgelehnt wurde und wird. Nicht nur in der liberalen Theologie, sondern auch in vielen konservativen Kreisen begegnet man dem Dekalog mit Ablehnung. Man spricht davon, dass Christus das Ende des Gesetzes ist (nach Röm 10,4) und somit die Zehn Gebote keine Relevanz mehr für unsere christliche Ethik haben. Man beruft sich stattdessen auf das Doppelgebot der Liebe und kommt somit zu einer sogenannten Situationsethik, in der in jeder Situation entschieden wird, was für uns richtig ist. Doch stimmt dieses wirklich? Ist Jesus wirklich das Ende des Gesetzes und hat somit die zehn Gebote aufgelöst?


[1] Bockmühl, Christliche Lebensführung: eine Ethik der Zehn Gebote, S. 32ff
[2] Burkhardt, Das große Bibellexikon, S. 1028
[3] Farkas, Wie der Mensch zum Menschen wird, S. 18f
[4] Jung, Die Zehn Gebote. S. 16ff
[5] Helbich, Zehn Zeichen Gottes: Die Gebote für unsere Tage. S. 10
[6] Walvoord, 1. Mose – 2. Samuel, Das Alte Testament erklärt und ausgelegt. S. 161 
[7] Burkhardt. Einführung in die Ethik. S. 57
[8] A.a.O. S. 58
[9] Bockmühl, Klaus. Christliche Lebensführung. Eine Ethik der zehn Gebote. S. 12
[10] A.a.O. S. 13ff
[11] A.a.O. S. 16
[12] A.a.O. S. 17ff