„Mittlerweile kennt in Europa nur eine Minderheit der erwachsenen Bevölkerung den Wortlaut der Zehn Gebote. Allenfalls die auf den Mitmenschen bezogenen Gebote des Dekalogs (haben) einen Ruf als ethisches Minimum – auch unter sogenannten Nicht-Gläubigen – bewahrt.“Schreiber, Die Zehn Gebote. Eine Ethik für heute, S. 11.
schreibt der SPIEGEL-Autor Mathias Schreiber.1 Auch die Meinungsumfrage Emnid kommt im Jahr 1999 zu dem Ergebnis, dass nahezu alle Frauen und Männer in Deutschland, nur noch vier der zehn Gebote für wichtig halten. Vor allem für die junge Generation ist auch nicht klar, wofür die zehn Gebote gut sein sollen.2 Dabei sind die zehn Gebote bis heute auch in der Rechtsprechung immer noch geltende Maßstäbe.
Gerade in der heutigen, extrem individualistisch geprägten Zeit in der die Maßstäbe und Werte außer Kraft gesetzt werden, sieht man eine Trendwende in Deutschland, nämlich die Sehnsucht nach verbindlichen Maßstäben. Viele Menschen sind auf der Suche nach Werten, die der Gesellschaft Halt geben.
Könnte die Rückbesinnung auf die zehn Gebote diese Sehnsucht stillen oder gelten die 10 Gebote uns als Christen nicht mehr?
1 Du Sollst …
1.1 Gottes Gabe an Israel
Viele Menschen denken, wenn sie das Wort „Gebote“ oder Gesetz hören, sofort an Verbote und Befehle, die zu befolgen sind. Sobald man diese Verbote und Befehle nicht einhält, wartet eine harte Bestrafung auf den Übeltäter.
Doch genau hier liegt das Problem. Wenn wir uns mit den 10 Geboten beschäftigen, dann ist es zwingend notwendig sich mit dem historischen Umfeld und der Situation zu beschäftigen. In den vergangenen Jahrhunderten hat die Christenheit einen großen Fehler gemacht. Sie hat die 10 Gebote aus ihrem Zusammenhang gerissen. Die zehn Gebote, wie sie in 2 Mose 20 stehen haben nicht den Anspruch, das Grundgesetz für die gesamte Menschheit zu sein, denn im ersten Satz, der sogenannten Präambel der Zehn Gebote[1], sagt der allmächtige Gott: „Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus, herausgeführt habe.“ Das war die Grundvorrausetzung der Zehn Gebote. Die Zehn Gebote beginnen mit einer großartigen Verheißung: „Ich bin der HERR, dein Gott,…“ und darauf folgt dann eine Erinnerung: „der ich dich aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus, herausgeführt habe.“
Wer ist er, der sich hier vorstellt? Gott stellt sich hier mit dem Gottesnamen YHWH (Jahwe) vor, was soviel wie „Ich bin mit dir“ oder „Ich bin gegenwärtig“[2] bedeutet. Es ist nicht irgendein Mensch, der hier spricht. Es ist Gott höchstpersönlich. Er hat die Autorität. Für den Juden hat Gott die höchste Autorität. „Das ist der Gott, der uns aus Ägypten geführt, und deshalb gehorchen wir. Er ist es, der uns befreit hat.“ Er sagt aber noch mehr. Gott sagt: „Ich bin dein Gott“. Das ist das Liebesangebot Gottes. Die Initiative geht immer von Gott aus.
Gott hat als erstes etwas getan. Er war es, der die Israeliten aus der Gefangenschaft befreit hat. Bei Gott kommt zuerst die Gabe und danach erst die Aufgabe. Das ist grundlegend für unser Verständnis der Zehn Gebote und für unser gesamtes Bibelverständnis.[3] Gott beginnt mit dem Schenken. Er gab die Freiheit, die Zusage seiner Nähe und seines Schutzes.
Wer erkennt, dass Gott die Israeliten für sich befreit hat, wird die Zehn Gebote nicht mehr missverstehen und als Belastung oder Einschränkung empfinden. Der Gehorsam den Zehn Geboten Gottes gegenüber ist eine uneingeschränkte und freiwillige Antwort der Dankbarkeit für Gottes große Freundlichkeit.[4] Die Zehn Gebote, so sagt Bonhoeffer: „erlauben dem Menschen, als Mensch vor Gott zu leben.“[5]
1.2 Gottes Aufgabe für Israel
1.2.1 Struktur des Dekalogs
Die Zehn Gebote, wie wir sie in 2 Mose 20 überliefert haben, bestehen aus zwei Teilen. Die ersten vier Gebote betreffen die Beziehung der Israeliten zu Gott, die anderen sechs behandeln die gesellschaftlichen Beziehungen innerhalb der Bundesgemeinschaft. Sie umfassen Zehn Grundsätze des menschlichen Lebens. 1. Religion, 2. Gottesdienst, 3. Verehrung, 4. Zeit, 5. Autorität, 6. Leben, 7. Reinheit, 8. Besitz, 9. Reden und 10. Zufriedenheit.[6]
Der Dekalog stellt unbedingt zu Gehorsam verpflichtende Forderungen, eine sogenannte „apodiktische“ Formulierung, die sich in solcher Form in keiner zeitgenössischen Gesetzgebung findet und im Rahmen eines Bundesschlusse gegeben wird. Vergleicht man allerdings den Aufbau der Gebote und ihren Kontext, so erkennt man auffallende Ähnlichkeiten zu den Verträgen der hetitischen Großkönige. Dieser Vergleich und die Form macht deutlich: Gott ist der überlegene Bundespartner, der seinen heiligen Willen zum Ausdruck bringt.[7]
1.2.2 Ziel des Dekalogs
Als Gott dem Volk Israel die 10 Gebote übergab, war es eines der größten Ereignisse der Menschheitsgeschichte. Der allmächtige und große Gott selbst schreibt auf zwei Steintafeln, seine Anweisungen an das Volk Israel (2. Mose 31,18). Weshalb? Zur Rechtfertigung? Zur Erlösung? Nein, es war nie Gottes Absicht dem Volk Israel, die zehn Gebote als Weg zur Erlösung zu geben (Röm 3,20a; Gal 3,11). Der Dekalog war „nicht der Wegweiser zu einem Ziel, an dessen Ende erst (als Lohn) das Leben steht, sondern sie ist Orientierung auf einem Weg, auf dem Israel jetzt schon lebt, vor Gott und unter seinem Segen“.[8] Rechtfertigung vor Gott, geschah und geschieht immer nur durch den Glauben an ihn (1Mose 15,6; Röm 4,3.22; 5,1; Gal 2,16; 3,6.21). Die Absicht oder das Ziel des Gesetzes beschreibt Paulus in seinem Brief an die Römer.
„Wir wissen aber, dass alles, was das Gesetz sagt, es denen sagt, die unter dem Gesetz sind, damit jeder Mund verstopft werde und die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen sei. 20 Darum: Aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden; denn durchs Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“Elberfelder-Bibel; Römer 3,19-20
Das Gesetz hatte also die Aufgabe, den Menschen, denen es gegeben wurde, zu zeigen, wie sündhaftig sie sind und dass sie unter das Gericht Gottes verfallen sind. Die zehn Gebote verurteilen somit den Menschen. Jeder der sie liest, muss erkennen, dass er ihnen nicht gerecht werden kann.
1.2.3 Der Dekalog in der Geschichte
In den ersten beiden Jahrhunderten vermischten viele Schriftsteller einzelne Gebote mit anderem ethischen Material. Bischof Irenäus von Lyon argumentierte gegen die Marcioniten, dass Christus die Gebote nicht beseitigte, sondern dass er uns die Kraft gab, sie zu halten. Er war auch der erste, der sie mit den Naturgesetzen identifizierte und selbst den Heiden, die keine spezifische Offenbarung des Willens Gottes hatten, in ihr Gewissen gelegt worden ist.[9]
In der Zeit der Kirchenväter verlor der Dekalog an Bedeutung. Im Gegensatz dazu, wurde die Ethik der evangelischen Räte überbewertet und als etwas, das über den Wert der zehn Gebote hinausging, betrachtet. Augustinus betrachtete die Zehn Gebote als ein vorchristliches Gesetz, das von Christus, durch das Doppelgebot der Liebe, vereinfacht wurde. Er betonte, dass der Christ von innen gelenkt wird, weil Gott seine Liebe in die Herzen ausgegossen hat (nach Röm 5,5) und nicht von einem Gesetz das auf zwei Tafeln geschrieben ist. Doch wirklich prägend für die Zeit der Kirchenväter (400 -1200 n. Chr.) in der christlichen Ethik, war Ambrosius, der Lehrer Augustins. Er schrieb das erste Lehrbuch christlicher Ethik und ersetzte die Zehn Gebote durch eine ethische Konstruktion der vier griechischen Tugenden Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit und Besonnenheit und ergänzte sie mit den christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe. Dabei unterschieden sie zwischen zwei Stufen, der „Pflicht“, zu der die zehn Gebote gehören und die der breiten Masse des Volkes gegeben wurde, und der „Vollkommenheit“, die das Vorrecht der Wenigen, nämlich der Mönche und Nonnen sei. Weiter kam hinzu, dass die verschiedene Listen von Werken oder Gaben des Geistes im Neuen Testament, aus dem Kontext gerissen und zu ethischen Anweisungen erhoben wurden. Statt die Zehn Gebote zu untermauern, ersetzten diese Anweisungen die Zehn Gebote und stellten ihn in den Schatten. [10]
Die zehn Gebote gewannen zu Beginn des 13. Jahrhunderts wieder an Bedeutung, da sie als Beichtspiegel, durch ihre negative Moral, in der Beichte nötig waren. Ein Buch Edmunds von Canterbury führte dazu, dass jedem Gebot eine Anzahl von Sünden nach kasuistischem Maß zugeteilt wurde. Thomas von Aquin (1224 – 1274) besprach die meisten der zehn Gebote einzeln in seiner Summa Theologica und machte dadurch deutlich, dass die Zehn Gebote wieder zentrale Bedeutung in der Kirche haben.[11]
Die Reformatoren, allen voran Luther, schafften die Zwei-Stufen-Ethik ab und konzentrierten die gesamte christliche Ethik auf die Zehn Gebote. Luther zeigte durch fünfzehn verschiedene Auslegungen der Zehn Gebote, dass die Gebote alles enthalten, was von jedem Christen erwartet wird. Wir brauchen nicht nach einer höheren Form der Frömmigkeit oder Verdienst zu suchen, wenn wir Gott wirklich von ganzem Herzen, mit unserem ganzen Verstand, mit ganzer Seele und aus aller Kraft lieben, denn dann sind wir voll beschäftigt, sagt er. Calvin folgt ihm, indem er besonderen Wert auf zwei Funktionen des Dekalogs legte: seine anklagende und seine Weisung gebende Funktion. Auch er sieht die Zehn Gebote als die „perfekte Regel der Gerechtigkeit“. Die Reformatoren lehrten, dass durch den Fall des Menschen, das Verständnis des Naturgesetzes verwirrt und verwischt war und deshalb der Mensch eine neue Offenbarung des Gesetzes benötigte, nämlich die Zehn Gebote. Es ist die Aufgabe des Christen, dieses Gesetz zu erfüllen. Christus brachte nicht ein neues Gesetz, sondern Er brachte die Kraft, die Gebote zu halten. Mit der Zeit setzte man die christliche Ethik mit den Zehn Geboten gleich.[12]
Mit dem Beginn der liberalen Theologie, allen voran Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834), begann die Ethik von den Zehn Geboten abzuweichen. Er erklärte den Dekalog für unangemessen als katechetisches Material, da es den Eindruck erwecke, das christliche Leben bestünde nur darin die Gebote zu halten. Emil Brunners, nach der Erneuerung der Theologie erschienene Lehrbuch der Ethik, Das Gesetz und die Ordnungen, enthält nicht einen einzigen Abschnitt über die Zehn Gebote, als wenn sie nicht existieren würden.
Diese Haltung gegenüber den Zehn Geboten hat dazu geführt, dass der Dekalog als christliche Ethik abgelehnt wurde und wird. Nicht nur in der liberalen Theologie, sondern auch in vielen konservativen Kreisen begegnet man dem Dekalog mit Ablehnung. Man spricht davon, dass Christus das Ende des Gesetzes ist (nach Röm 10,4) und somit die Zehn Gebote keine Relevanz mehr für unsere christliche Ethik haben. Man beruft sich stattdessen auf das Doppelgebot der Liebe und kommt somit zu einer sogenannten Situationsethik, in der in jeder Situation entschieden wird, was für uns richtig ist. Doch stimmt dieses wirklich? Ist Jesus wirklich das Ende des Gesetzes und hat somit die zehn Gebote aufgelöst?
[1] Bockmühl, Christliche Lebensführung: eine Ethik der Zehn Gebote, S. 32ff
[2] Burkhardt, Das große Bibellexikon, S. 1028
[3] Farkas, Wie der Mensch zum Menschen wird, S. 18f
[4] Jung, Die Zehn Gebote. S. 16ff
[5] Helbich, Zehn Zeichen Gottes: Die Gebote für unsere Tage. S. 10
[6] Walvoord, 1. Mose – 2. Samuel, Das Alte Testament erklärt und ausgelegt. S. 161
[7] Burkhardt. Einführung in die Ethik. S. 57
[8] A.a.O. S. 58
[9] Bockmühl, Klaus. Christliche Lebensführung. Eine Ethik der zehn Gebote. S. 12
[10] A.a.O. S. 13ff
[11] A.a.O. S. 16
[12] A.a.O. S. 17ff